Schneeweiß: Hallo und herzlich willkommen zu diesem Podcast. Ich bin Ulrike Schneeweiß, freie Wissenschaftsautorin aus Hannover und heute hier im Innovationszentrum Niedersachsen zu einem Gespräch mit Delia Balzer und Sina Seidel: „Hallo Frau Seidel, hallo Frau Balzer“. Sie beide sind die Köpfe der Landesinitiative Niedersachsen Generationengerechter Alltag, kurz LINGA. Die Initiative fördert die Entwicklung von Produkten und Dienstleistungen, die älteren Menschen ein möglichst selbstbestimmtes Leben im Alltag ermöglichen. In diesem Jahr feiert die LINGA Geburtstag. Seit 15 Jahren bringt sie Partner aus Wirtschaft, Wissenschaft, Gesellschaft und Politik zusammen, die gemeinsam soziale Innovationen hervorbringen. Anlässlich des Jubiläums erzählen Delia Balzer und Sina Seidel heute von ihren Erfahrungen, Errungenschaften und ein bisschen von ihren Plänen für die Zukunft.
Um Sie kurz vorzustellen: „Frau Seidel, Sie sind seit 2013 bei der LINGA, zunächst als Projekt-Assistentin und später verantwortlich für die Themen „Technik“ und „Ambient Assisted Living“ sowie als Themenmanagerin der jährlichen LINGA Woche. Und Frau Balzer, Sie waren selbständige Biolandwirtin, haben eine homöopathische Heilpraxis betrieben und bis 2007 Sozialwesen studiert, bevor Sie dann bei der LINGA ein- und später aufgestiegen sind.“
Die Initiative wird gefördert vom niedersächsischen Ministerium für Soziales, Gesundheit und Gleichstellung und hat seit ihrer Gründung mehrfach den Träger gewechselt, von der Wolfsburg AG über ein An-Institut an der TU Braunschweig bis zum Innovationszentrum Niedersachsen, wo sie heute angesiedelt ist. Hat der Wechsel dieser Träger auch Veränderungen gebracht in die Prioritäten, in der Ausrichtung oder auch in der formalen Gestaltung der LINGA als Netzwerk oder Kontaktplattform?
Balzer: Ich würde sogar sagen, maßgeblich haben die Trägerwechsel unsere Arbeit und unsere thematische Ausrichtung mitgeprägt. Angefangen bei der Wolfsburg AG als Public Private Partnership der Stadt Wolfsburg und des VW Konzerns haben wir uns da aus der Wirtschaftsförderung heraus vor allem den Produkten und Dienstleistungen gewidmet. Und der Auftrag in dem Gründungsjahr war eigentlich gewesen, eine Produktdatenbank zu erstellen und Zielgruppe waren die Seniorinnen und Senioren selbst. Das heißt, als ich dann 2008 hinzukam, habe ich viel referiert. Wir haben viel ausgestellt, wir waren viel auf Messen und wir haben immer wieder versucht, diese Datenbank zu befüllen mit neuen innovativen Produkten. Dann war es schon so, dass Ende 2009 die neue Zielsetzung hinzukam. Ambient Assisted Living, assistive Technologien, übrigens für uns als Team eine große Herausforderung, wenn man bedenkt, dass man aus einem ganz anderen Feld kommt, soll man sich plötzlich der Technik zuwenden, aber letztlich ist es nur Netzwerkarbeit. Als wir das erkannt haben, haben wir auch dieses Thema mit Leidenschaft bearbeitet und dafür sensibilisiert und bundesweit ein sehr großes Ambient Assisted Living Netzwerk initiiert. Mit dem Trägerwechsel zum An-Institut der TU Braunschweig ging einher, dass die politische Hausspitze sich eine Nähe zur Forschung gewünscht hatte und das konnten wir dort gut abbilden. Das heißt, wir waren seitdem und sind es seither immer wieder Partner in Forschungsprojekten. Unsere Aufgabe ist es, da zu gucken, welche passenden Ausschreibungen gibt es gerade auf Landes- oder Bundesebene und dementsprechend interdisziplinäre Forschungskonsortien zu bilden. Das ist unsere Stärke, das interdisziplinäre Arbeiten, das können wir da gut einbringen. Und dann gab es nochmal, wieder durch den Projektträgerwechsel hin zum Innovationszentrum Niedersachsen, die strategische Nähe zur Landesregierung und das hat uns nochmal mehr Aufmerksamkeit beschert bei den unterschiedlichen Häusern. Also wir arbeiten ja nicht nur mit dem Sozialministerium zusammen, sondern bedingt durch unsere Themen wie zum Beispiel Tourismus, wie zum Beispiel Mobilität oder E-Health, Gesundheit, auch eng mit dem Wirtschaftsministerium. Da ist das Innovationszentrum für uns eigentlich der ideale Projektträger, um im Schulterschluss mit anderen Kollegen bei uns aus dem Haus, wie aus dem Bereich BioRegioN, oder Mobilität oder Digitalagentur zu kooperieren und gemeinsam ressortübergreifend unsere Themen voranzubringen.
Schneeweiß: Eine, und sogar DIE Kernaufgabe der LINGA ist es Partnerschaften und Netzwerke zu fördern. Sie sprechen gerne vom Brücken bauen in diesem Zusammenhang oder ihre Partner haben vom Dolmetschen gesprochen. Die Partner der LINGA stammen aus unterschiedlichen Bereichen. Da sind zum Beispiel die Dienstleistungen, Tourismus, Handel, auch Forschung und die Politik, um nur einige zu nennen. Welche Brücken auf wirtschaftlicher, politischer oder gesellschaftlicher Ebene haben Sie so entstehen sehen oder haben Sie mit initiiert?
Balzer: Sicherlich eine starke Brücke ist die zwischen dem Sozial- und dem Wirtschaftsministerium. In den letzten Jahren kam, verstärkt durch die Digitalisierungsstrategie der niedersächsischen Landesregierung, dieses Thema mit hinzu. Und auch da konnten wir sicherlich Brücken schlagen.
Seidel: Wenn ich ans Brücken schlagen oder ans Dolmetschen denke, dann denke ich an die LINGA Woche, denn da bringen wir verschiedene Disziplinen zusammen. Also im Studium ist es oft so, dass die Designer unter sich sprechen oder miteinander kommunizieren oder die Sozialarbeiter oder die Gerontologen und niemand, oder eher seltener hat man Kontakt zu anderen Disziplinen im Rahmen des Studiums. Und beim Projekt LINGA Woche bringen wir die verschiedenen Disziplinen zusammen. Und dann müssen die teilweise lernen, sich zu dolmetschen oder Ihre Sprache oder ihre Auffassung etwas anzupassen oder zu ändern oder sich gegenseitig zu verstehen. Ein Sozialarbeiter und ein Designer – die reden von den gleichen Dingen, aber sie sagen es ganz anders und das muss man erstmal lernen.
Schneeweiß: Ich merke schon, wir müssen ganz dringend über die LINGA Woche sprechen. Ich schlage einen kleinen Bogen über Sie, Frau Seidel, denn für Sie ist das Interdisziplinäre eigentlich das Natürliche. Sie haben schon in Ihrem interdisziplinären Studium der Gesundheitswissenschaften und des Case Management Seite an Seite mit Informatikern gearbeitet. Sie haben einen Fokus auf technische Themen und Sie haben die LINGA Woche in diesem Jahr coronabedingt sogar als rein digitalen LINGA Hack ausgerichtet. Ist die Digitalisierung, die Frau Balzer gerade schon mehrfach angesprochen hat, eigentlich derzeit noch eine Entwicklung, die den Lebensalltag der Jüngeren eher von den Älteren trennt, wenn wir so an die Nutzung von sozialen Medien denken, oder wird es auch schon spürbar, dass sie eigentlich eine Technik ist, die allen hilft?
Seidel: Die Digitalisierung ist ein Megatrend, der nicht mehr weg geht. Wir haben in den vergangenen Jahren viel zu dem Thema, also viele Projekte zum Thema, durchgeführt. Wir haben in den vergangenen Jahren gelernt oder gesehen, auch im Rahmen der Corona Pandemie, dass sich Ältere mit dem Thema beschäftigen. Es ist nicht mehr wegzudenken, es ist wichtig, sich mit dem Thema zu beschäftigen. Natürlich wachsen Jüngere jetzt von Anfang an damit auf, aber eine reine oder strikte Trennung findet meiner Meinung nach nicht mehr statt. Hat sie sicherlich vor einigen Jahren noch, aber mittlerweile können digitale Technologien die Generationen verbinden.
Balzer: Aber wir müssen die vielen Offliner mit in die digitale Welt nehmen. Dafür hatten wir vor allem in den letzten zwei Jahren unterschiedlichste Veranstaltungen gemacht, um genau dafür zu sensibilisieren. Also die Online-Kompetenz zu stärken bei Seniorinnen und Senioren, auch im Hinblick auf Vereine. Für uns könnten auch Vereine so ein Raum sein, wo genau diese Technik ausprobiert werden kann. Mein Verein, wo ich im Ehrenamt als älterer Mensch schon länger tätig bin, da vertraue ich den anderen Mitgliedern. Man kennt sich untereinander und da gibt man sich keine Blöße, wenn man sagt: „Du, ich habe jetzt ein neues Smartphone. Ich weiß gar nicht damit umzugehen, können wir uns dann nicht mal zusammensetzen?“
Schneeweiß: Ihr Lieblingsprojekt, Frau Seidel, ist die LINGA Woche. Da arbeiten Sie mit wissenschaftlichem Nachwuchs, der Technik und Designs für Ältere entwickelt. Das verkörpert das Thema von den Jungen für die Alten. Welche Erfahrung haben Sie im Umgang mit den Studierenden da, mit deren Haltung gegenüber den Älteren gemacht?
Seidel: Die LINGA Woche ist mein Herzensprojekt, das begleite ich von Anfang an. Es macht Spaß, auch wenn es stressig ist, das Ganze zu planen, durchzuführen und zu begleiten. Ich denke, dass es wichtig ist, dass man den Jüngeren vermitteln sollte, dass sie an die Älteren denken. Das wird im Studium nicht immer so kommuniziert. Es ist schön und gut, wenn man als Designer oder Informatiker irgendwas Tolles entwickelt. Aber wenn man dann an die ältere Bevölkerung denkt und die mitdenkt und an die Probleme oder Herausforderungen denkt oder an die Bedarfe vor allem, dann ist das eine tolle Sache und damit werden die Studenten teilweise erst das erste Mal in der LINGA Woche befähigt.
Schneeweiß: Das klingt ein bisschen so, als wenn die Studierenden, die jungen Studierenden, die da reinkommen, erstmal einen technischen Fokus haben. Und denken: oh das ist eine Herausforderung für mich auf der Ebene. Haben Sie das Gefühl, dass die Studierenden da durch diese Begegnung mit den, wie sie gesagt haben Bedarfen der Älteren, auf persönlicher Ebene dazulernen?
Seidel: Dazulernen sicherlich. Aber die sind ja nicht nur aus dem technischen Bereich. Wir haben Gerontologen, wir haben Sozialarbeiter, wir haben Architekten, wir haben Informatiker, Designer. Die sind sehr interdisziplinär aufgestellt und durch diese Arbeit im interdisziplinären Team kommen sie schon mit ihren anderen Disziplinen zusammen und lernen da schon. Und wenn sie sich dann mit den Bedarfen und Herausforderungen einer älteren Gesellschaft auseinandersetzen, dann kann da ganz viel entstehen und das ist was Tolles. Was meinst du, Delia?
Balzer: Ich glaube das Tolle ist, dass, wir haben es immer genannt das LINGA Wochen Fieber, grassiert immer und das steckt alle an. Also nicht nur die Studierenden, sondern auch die beteiligten Hochschulprofessoren, die wissenschaftlichen Mitarbeiter und die regionalen Partner, mit denen wir zusammenarbeiten. Es steckt einfach an und ich glaube, den größten Mehrwert, den die Studierenden neben dem interdisziplinären Arbeiten haben, ist, dass sie plötzlich einen ganz praktischen Bezug haben, einen lebenspraktischen Bezug. Fast jeder dort hat eigene Großeltern oder Nachbarn, die älter sind. Das heißt: Jeder, unabhängig vom Studiengang, kann sich durchaus vorstellen, wie ist der praktische Bezug. Und ich kann mit meinem Wissen, was ich mir jetzt schon in 4 Semestern, in 5 Semestern oder erst in 2 Semestern angeeignet habe, ich kann einen Beitrag dazu leisten. Indem die Teams interdisziplinär in einem Ideen-Wettbewerb gegeneinander antreten, überflügeln die sich regelrecht. Das Tolle ist, dass die am Anfang direkt mit den sogenannten Problem-Ownern, mit den Herausforderungsgebern zusammenkommen. Also mit den Seniorinnen und Senioren und die tauschen sich aus, interviewen die und sagen: „Wo habt ihr wirklich Probleme, was können wir für euch tun?“ Dann entwickeln sie den ersten Prototypen und dann werden die Senioren nochmal gefragt: „Was würdet ihr denn davon halten?“. Manchmal landet das dann im Papierkorb und dann entsteht oft eine Diskussion im Gespräch. Das kommt bei den Seniorinnen und Senioren unheimlich gut an, das plötzliche Gehör-Finden bei jungen Wissenschaftlern für ihre Themen, für ihre Probleme, für ihre Herausforderung. Da profitieren alle Seiten davon und wie gesagt, das LINGA Wochen Fieber, das greift um sich und wir haben es auch in diesem Jahr digital festgestellt. Auch digital war es nicht nur ein Strohfeuer, sondern auch da ist der Funke übergesprungen und es sind tolle Ideen bei rausgepurzelt.
Schneeweiß: Wir bleiben noch ein kleines bisschen bei diesem Themenkomplex „Austausch“ zwischen den Jüngeren und den Älteren. Die LINGA arbeitet mit niedersächsischen Startups und diese Zusammenarbeit soll künftig weiter ausgebaut werden. Welche Bedeutung haben denn Startups und wie sieht so das Miteinander der Jüngeren und der Älteren auf diesem Gebiet aus?
Balzer: Die niedersächsischen Startups haben die Zielgruppe mittlerweile für sich entdeckt und auch das Wirtschaftsministerium hat die Relevanz der sozialen Innovationen erkannt. Der niedersächsische Durchstarter-Preis für die Startup-Szene hat in diesem Jahr eine eigene Kategorie gehabt, nämlich soziale Innovationen, und dort fast die meisten Einreichungen gehabt. Das zeigt allein schon die Relevanz der sozialen Innovation heutzutage in unserer Gesellschaft. Wir sensibilisieren schon seit Jahren dafür, dass die junge Startup-Szene sich doch diesem Themenkomplex widmen kann oder widmen sollte. Dort haben wir, unter anderem, wenn wir auf Veranstaltungen Startups mit der Zielgruppe zusammenbringen, sogenannte Fokusgruppen gehabt. Wir haben ältere Menschen, die gerne diskutieren, mit in die Runde gebracht und die haben sich dann die ersten Produkte der Startups zur Hand genommen und haben ihr Feedback gegeben. In der Diskussion kam auch raus: Oh, wir müssen unser Produkt dahingehend noch etwas abwandeln, oder wir müssen eine ganz neue Sparte aufmachen. Der Austausch ist da ganz wertvoll. Wir haben vor vier Jahren das Social Innovation Center in der Region Hannover initiiert und das ist ein Ort, wo soziale Innovationen im Hafven in Hannover weiterentwickelt werden können und dort findet immer ein Miteinander der Generationen statt und ein Austausch.
Schneeweiß: 15 Jahre LINGA, Sie haben viele Herausforderungen gemeistert. Was ist ihr Ziel, Frau Seidel, fangen wir mit ihnen an?
Seidel: Ja, das hängt von der niedersächsischen Landesregierung ab, eine Strategie für die LINGA natürlich. Ich hoffe persönlich, dass die LINGA Wochen weitergehen, dass es in den nächsten Jahren so stattfinden wird und dass wir immer wieder einen Schwerpunkt setzen oder es hinbekommen, für unsere Themen weiterhin zu sensibilisieren, mit dem Hintergrund der Digitalisierung, und dass wir den generationengerechten Alltag noch weiter fokussieren, so wie wir es bisher schon getan haben aber dass das noch weiter passiert.
Schneeweiß: Frau Balzer?
Balzer: Also wenn Sie mich fragen, die nächsten 15 Jahre, dann wäre ich 67, dann würde ich mich ehrenamtlich als Fokusgruppenmitglied als Seniorin noch bei der LINGA engagieren und würde dann selber den jungen Startups Feedback zu ihren Produkten und Dienstleistungen geben. Also ich glaube, ich würde mich da sehr lebendig und engagiert einbringen.
Schneeweiß: Dieser Dialog ist ihnen wichtig?
Balzer: Genau, genauso wie die Kreativität. Ich wünsche mir, dass ich meine Kreativität noch weiterhin bei der LINGA einbringen kann und dass die Landesregierung die Wichtigkeit des Themas erkennt und bewahrt, so dass wir in den nächsten Jahren noch einiges umsetzen können, hier in Niedersachsen, und zwar aus dem Innovationszentrum heraus mit dem Oberthema „soziale Innovationen“, im Schulterschluss mit den Kolleginnen und Kollegen hier aus dem Hause. Denn da haben wir gemeinsam mehr Strahlkraft und das macht die Arbeit so unheimlich spannend, dass diese neuen Impulse hinzukommen. Letztlich haben wir das Hauptaugenmerk auf die älteren Menschen in Niedersachsen und um deren Alltag generationengerechter zu gestalten. Da fällt mir noch das ein oder andere ein, was wir in den nächsten Jahren gemeinsam umsetzen können.
Schneeweiß: Dann bedanke ich mich herzlich bei Ihnen beiden für dieses lebhafte Gespräch anlässlich des Jubiläums der Landesinitiative Generationengerechter Alltag Niedersachsen LINGA und verabschiede mich von unseren Zuhörern in diesem Podcast.
Seidel & Balzer: Vielen Dank. Vielen Dank auch.
(Bild: tianya1223/pixabay)