Digitale Anwendungen können helfen, das Gesundheitssystem für die anstehenden Herausforderungen zu wappnen. Damit Lösungen für alle entstehen, müssen die verschiedenen Beteiligten in der Entwicklung zusammenarbeiten und die sich wandelnden Bedarfe künftiger Nutzender im Blick behalten. Die LINGA sieht ihre Aufgabe darin, Partnerschaften im Sinne gemeinsamer Ziele zu stärken.

Die Altersstruktur unserer Gesellschaft stellt unser Gesundheitssystem jetzt und in den kommenden Jahrzehnten vor immense, sich gegenseitig verstärkende Herausforderungen: Während die Zahl älterer Menschen, die häufig von chronischen und Mehrfacherkrankungen betroffen sind, stetig steigt, sinkt die Zahl nachrückender Fachkräfte. Die Generation der Babyboomer tritt nach und nach in den Ruhestand, darunter viele medizinische und Pflegefachkräfte. Angesichts der steigenden Belastung in ihren Tätigkeitsbereichen entscheiden sich viele sogar für ein früheres Ausscheiden aus dem Beruf. Es stellen sich drängende Fragen: Wer soll die älteren Menschen von morgen und übermorgen angemessen versorgen? Und wie können wir als Gesellschaft die Kosten der Versorgung stemmen?

Die zunehmende Digitalisierung des Gesundheitssystems soll helfen, Antworten auf beide Fragen zu finden. Hinter dem großen Zauberwort stecken vielfältige kleine und größere Lösungsansätze.

Einrichtungen: Kapazitäten freisetzen

Für Kliniken birgt der digitale interne und externe Datenaustausch das Potenzial, das Patientenmanagement deutlich zu straffen, indem beispielsweise Doppeluntersuchungen vermieden werden. Das setzt Kapazitäten beim behandelnden Personal frei und entlastet zudem die Patientinnen und Patienten, die beispielsweise ihr Röntgenbild nicht mehr per Taxi von einer Klinik in die andere bringen müssen. Auch Beschäftigte in Pflegeeinrichtungen wünschen sich mehr Möglichkeiten und bessere technische Ausstattung für den Austausch innerhalb der eigenen sowie mit anderen Einrichtungen. Digitale, mobile Pflegedokumentation, Schichtplanung und Arbeitszeiterfassung oder auch die Möglichkeit, von zu Hause aus an Dienstbesprechungen teilzunehmen, würde vielen die Arbeit und das Leben erleichtern.

Viele Kliniken oder Pflegeeinrichtungen möchten ihren Mitarbeitenden einen attraktiveren Arbeitsplatz bieten und sind schon aus diesem Grund an digitalen Programmen für das Patientenmanagement oder die Logistik interessiert. Umfassende Lösungen zu finden, wird allerdings erschwert von der Diversität der Einzellösungen, die Einrichtungen oder Abteilungen für sich entwickelt haben. Hier lohnt der Blick nach Skandinavien: Norwegens öffentliche Krankenhäuser nutzen beispielsweise einen offenen Standard für die elektronische Patientenakte. Er erlaubt allen Einrichtungen, Daten unabhängig von herstellerspezifischen Formaten und Schnittstellen miteinander auszutauschen

Netzanschluss bedeutet Teilhabe

Damit moderne Soft- und Hardware den Einrichtungen und ihren Beschäftigten die verheißende Entlastung bringen können, müssen natürlich die entsprechenden infrastrukturellen Voraussetzungen gegeben sein. Was nützt das leistungsfähigste Smartphone, die innovativste App, wenn kein Internet verfügbar ist? Unter diesem Gesichtspunkt begrüßt die LINGA die Ankündigung des niedersächsischen Sozialministeriums, Pflegeheime bis 2025 flächendeckend mit WLAN ausgestattet zu haben – und auch der Hausanschluss an schnelles Internet darf nicht zum Nadelöhr werden. Überfällig ist der Anschluss der Pflegeheime ohnehin für die dort Lebenden: Zugang zum Internet bedeutet Teilhabe am gesellschaftlichen Leben. Nicht nur gibt es Nachrichten oder Neuigkeiten aus dem Familienalltag per Messenger-App, zunehmend sind heute auch Kulturveranstaltungen, Gottesdienste und natürlich Bibliotheken online zugänglich.

Unterstützung im Alltag

Wichtige Funktionen können digitale Helfer auch am Übergang entlassener Personen von der Klinik in den häuslichen Alltag übernehmen. Es gibt eine wachsende Anzahl an Apps, die Genesende in der oft schwierigen Übergangsphase anleiten und begleiten, sei es bei Bewegungsübungen, in Fragen der Ernährung oder bei der Selbsteinschätzung ihres Gesundheitszustandes. Telemedizin erleichtert in dieser Phase zudem den regelmäßigen Kontakt zur betreuenden Ärztin oder dem Pflegedienst – die gerade in ländlichen Räumen nicht immer direkt vor Ort sind.

Man muss gar nicht krank werden, um den Wert digitaler Alltagsunterstützung schätzen zu lernen: Jeder und jedem Einzelnen können digitale Helfer es erleichtern, im Alter so lange wie möglich selbstbestimmt in der gewohnten Umgebung zu leben. Anwendungen aus dem Bereich des Ambient-Assisted Living (AAL) können Menschen mit körperlichen oder mentalen Einschränkungen bei vielen Tätigkeiten entlasten. Und das Angebot an digitalen – oder analogen – Kleingeräten und Technologien, die eigenständiges Handeln unterstützen und Unfällen oder Erkrankungen vorbeugen, wächst stetig. Die Ideen reichen von der Fitness-App, die spielerisch zur täglichen Bewegungs- oder Denksporteinheit motiviert, über den Türklingelalarm für Hörgeschädigte bis zum Smart-Speaker, der den Blutdruck überwacht. Das Bewusstsein für den individuellen Gewinn an Lebensqualität dank digitaler Tools zu stärken, ist wichtig. Denn es kann Menschen helfen, die Scheu vor dem Umgang mit digitalen Geräten und Programmen abzubauen.

Gemeinsam entwickeln

Voraussetzung dafür, dass Nutzende unterstützende Technologien akzeptieren, ist außerdem, dass diese nicht über ihre Köpfe hinweg entwickelt werden. Es lohnt sich für Technikentwickelnde, die Alltags-Hacks kreativer Seniorinnen und Senioren wahrzunehmen, aufzugreifen und technisch oder digital zu verfeinern, um sie in allgemein verfügbare Produkte umzuwandeln. Den dafür nötigen Austausch zwischen Nutzenden und Entwickelnden fördern beispielsweise die jährlich stattfindenden LINGA Wochen, bei denen Studierende gemeinsam mit älteren Menschen Lösungen für den generationengerechten Alltag entwickeln.

Mit technischen Mitteln können wir in unserer Gesellschaft vieles zum Guten bewegen. Und jetzt ist ein guter Zeitpunkt, Veränderungen im Gesundheitsmanagement anzustoßen und zu verbreiten. Die Kohorte der Babyboomer, die gerade am Übergang in das Rentenalter steht, bringt ihre eigene Lebenseinstellung sowie Konsum- und Technikerfahrung mit und ist Neuem gegenüber durchaus aufgeschlossen. Darin sehen wir eine große Chance, die künftigen Nutznießenden in der Phase der Umwälzungen mitzunehmen. Auch muss der Gesundheitssektor nicht jedes Rad neu erfinden. Viele Pfade haben Technologieideen aus dem Mobilitätssektor bereits geebnet, so mancher Ansatz lässt sich übertragen.

Geeignete Modelle digitaler Gesundheitshelfer entstehen daher am besten im engen Austausch zwischen den diversen Akteuren und künftigen Nutzenden, etwa indem sich Kliniken und Startups zusammentun, um passgenaue, bedarfsgerechte technische Lösungen zu entwickeln. Oder indem öffentlich zugängliche Räume zur Verfügung gestellt werden, wo Entwickelnde ihren Zielgruppen begegnen und sich mit ihnen austauschen können. Im Living Care Lab der Stadt Stadthagen beispielsweise haben interessierte Pflegefachkräfte, Vertriebsexperten und private Nutzende die Möglichkeit, innovative Produkte zu sehen, anzufassen und auszuprobieren.

Klarheit, Beratung, Unterstützung – Partnerschaften für langes gesundes Leben

Wir sind heute eine Gesellschaft des langen Lebens und brauchen ein Gesundheitssystem, das ein langes gesundes Leben gewährleisten kann. Auf dem Weg dahin sind noch viele Hürden zu nehmen: Niedergelassene Ärztinnen und Ärzte, die mit der Betreuung ihrer Patientinnen und Patienten mehr als gut beschäftigt sind, brauchen beratende und ausführende Unterstützung, um ihre Praxisabläufe digital zu optimieren. Unternehmensgründende mit Ideen für die digitale Gesundheitsversorgung sind dringend auf Beratung und finanzielle Unterstützung angewiesen, um im Dschungel deutscher, europäischer und weltweit verschiedener regulatorischer Anforderungen ihren Weg zu finden. Krankenkassen sind unsicher, ob sie digitale Innovationen willkommen heißen oder eine Kostenexplosion fürchten sollen – auch sie brauchen mehr Klarheit.

Als vernetzende Instanz auf Landesebene sehen wir von der LINGA unsere Aufgabe darin, Akteurinnen und Akteure der Gesundheitsversorgung für die Bedarfe der künftigen Gesellschaft zu sensibilisieren und Partnerschaften zu stiften, zu begleiten und zu fördern, die Lösungen für diese Bedarfe hervorbringen.

(Text im Auftrag der LINGA: Dr. Ulrike Schneeweiß, Freie Wissenschaftsautorin)

Quellen:
KOPF Studie, Allianz für die Region GmbH, Braunschweig, Ansprechpartnerin: Nadine Muthmann
HannoverImpuls, digital health city, Ansprechpartner: Andreas Müller
Sociology of Health & Illness, Volume 42, Issue 2, February 2020, Pages 232-246

 

(Bild: Antoni Shkraba/Pexels)